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Jahrestagung 2000 der IALE Region Deutschland

Sehen und Verstehen einer Landschaft als Ganzes

Ralf Donner, Technische Universität Freiberg, Fakultät für Geowissenschaften

Die Fernerkundung bietet neben der effektiven Erhebung gitternetzartig angeordneter Messwerte den einmaligen Vorteil, Regionen in "einen Blick" zu nehmen, die ein Vielfaches größer sind als der bodengebundene Gesichtskreis eines Beobachters. Kann dieses immer mehr in Vergessenheit geratende Potential der Fernerkundung für das Beschreiben oder Erfassen von Zusammenhängen landschaftlicher Phänomene fruchtbar werden?

Vor der Beantwortung dieser Frage muss herausgefunden werden, wie in Luftbildern überhaupt Zusammenhänge erkannt werden können. Wenn unter diesem Gesichtspunkt Fernerkundungsanwendungen betrachtet werden, lassen sich die folgenden beiden Vorgehensweisen erkennen.

Erstens werden Bildteile als zu einem Objekt gehörend, also als zusammenhängend angesehen, wenn sie ähnliche Farb-, Form- oder Texturmerkmale aufweisen. Wegen der gleichen dunklen Färbung können beispielsweise Wasserflächen in einem Satellitenbild als Teile eines Flusssystems erkannt werden. Zweitens können verschiedenartige Bildteile als zu einem einzigen Objekt gehörend angesehen werden, wenn das Denkschema dieses Objektes die im Bild aufgefundene Kombination verschiedenartiger Teile vorsieht. Bezogen auf ein Luftbild könnte etwa eine gelbe Fläche mit einer dunklen Aussparung neben einer roten Fläche, beide geradlinig begrenzt, als "Wand mit Fenster" und als "Dach" eines Hauses angesehen werden. Nach diesem Schema werden Fernerkundungsdaten in verschiedenen Anwendungsgebieten interpretiert: Fotogeologische Lineamentierungen, Klassifizierungen der Flussnetze, Auffinden archäologischer Strukturen, etc. In den Fernerkundungsdaten werden Zusammenhänge sichtbar, die vorher theoretisch bekannt waren oder anhand anderer Daten vermutet wurden. Dabei ist das Vorwissen (Denkschema) des Photointerpreten von entscheidender Bedeutung. Er oder sie kann im Bild nur solche Zusammenhänge finden, deren bildliche Vorstellung aufgrund der bisherigen Erfahrung gebildet werden kann. Der im Fernerkundungsbild gefundene Zusammenhang liegt also in dem der aktuellen Wahrnehmung übergestülpten Denkschema. Wenn nicht vorgewusst wird, dass Wasserflächen im Luftbild gleichmäßig dunkel erscheinen, können sie nicht gefunden werden. Wenn keine Vorstellung davon gebildet werden kann, wie ein Haus im Luftbild aussehen kann, wird es nicht erkannt. Auf diese Weise können bekannte Gegenstände und Prozesse anhand ihrer äußeren Merkmale in den Daten der Fernerkundung wiedererkannt werden. Ein dendritisches Flusssystem kann anhand der dendritenähnlichen Form der Fließe erkannt werden etc. Eine Landschaft könnte auf die gleiche Weise wiedererkannt werden: Eine Küstenlandschaft an den Vorstellungen einer Küste, eine Steinrückenlandschaft an den Steinrücken usw. Das Wiedererkennen anhand der äußerlichen Ähnlichkeit ist die für den Alltag typische und außerordentlich wichtige Form des Erkennens.

Eine andere Art des Erkennens ist vielleicht aus der Kunstbetrachtung bekannt: Die aufmerksame Betrachtung des Kunstwerkes ermöglicht es, dessen Komposition sinnlich empfindend nachzuvollziehen. In der ästhetischen Wahrnehmung gibt es - je nach Schulung mehr oder minder gut entwickelt - ein Empfinden für die Stimmigkeit der Gestaltung der einzelnen Details. Ein Ähnliches Vermögen wird in Anspruch genommen, wenn die Stimmigkeit der Kleidung einer Person untersucht wird. Es gibt ein sehr feines Gespür nicht nur dafür, ob die Schuhe zur Jacke passen, sondern auch ganz Unvergleichliches wird in Beziehung gesetzt: Etwa ob ein Schmuckring zur Gesamterscheinung der Person passt. Diese Empfindungsfähigkeit kann nun auch eine wichtige Anlage für das sinnliche Verstehen des inneren Zusammenhanges einer Landschaft sein, da der bei der Betrachtung eines Kunstwerkes in Anspruch genommene Sinn auch bei der Wahrnehmung von Landschaften helfen kann: Eine aufmerksame Wahrnehmung der Farb- und Formensprache der Pflanzen, Gesteine, des Bodens, der Lichtverhältnisse, bei der das Besondere einer Landschaft spürbar wird, geht über die wiedergefundenen Merkmale und ihre funktionellen Beziehungen hinaus. Die Vielzahl der Einzelwahrnehmungen tragen zu einem Gesamteindruck bei. Sie lassen hinter den Einzelerscheinungen eine Einheit spürbar werden. Dass auch in einer Landschaft eine solche innere Einheit besteht, wird u. a. daran deutlich, dass verschiedene Landschaften voneinander unterschieden werden können.

Mit der ästhetischen Betrachtung wird der Zusammenhang einer Landschaft zwar nicht begrifflich fassbar, aber an der inneren Einheit ihrer Teile sinnlich und frei von gewohnten Denkschemata erlebbar.

Neben der Ganzheit kann natürlich auch die Zerstörtheit einer Landschaft durch sinnliche - bei der Fernerkundung: visuelle - Wahrnehmung empfunden werden: So braucht man nicht Landschaftsarchitekt zu sein, um etwa die tiefgreifende Zerstörung einer gewachsenen Landschaft durch Tagebaue sinnlich zu erleben. Als weiteres Beispiel für die hier behauptete Korrespondenz zwischen dem Zustand einer Landschaft und deren menschlicher Empfindung kann angeführt werden, dass großflächige land- oder forstwirtschaftliche Monokulturen gleichermaßen ermüdend und strapazierend auf den Betrachter wie auf den Naturhaushalt wirken.

Das Sehen der Fernerkundungsbilder ermöglicht das Erkennen von Linien, Flächen und Räumen. Alle drei Sehfähigkeiten können Landschaft, so wie sie ist, erfahrbar werden lassen. Bei aller gebotenen Vorsicht gegenüber dem, was aus der Subjektivität des Betrachters auf das Bild übertragen wird, kann das, was die Farb- und Formensprache der Landschaft sinnbildlich an Erlebnissen vermittelt, auch ein Hinweis auf Eigenschaften der Landschaft sein. Aus der optischen Eingepasstheit eines Gewerbegebietes in die Farb- und Formensprache einer Landschaft kann nicht auf dessen Umweltverträglichkeit geschlossen werden. Aber das Empfinden einer harmonischen Ganzheit der natürlichen und der künstlichen Landschaftskomponenten kann mindestens dann auf einen harmonischen Zusammenklang auch in ökologischer Hinsicht hindeuten, wenn natürlichere und künstliche Landschaft nicht nur in ihrer momentanen Formensprache sondern auch in ihren Entwicklungsbewegungen langfristig miteinander harmonieren.

Mit dem ästhetischen Landschaftsverständnis wird die Ganzheit einer Landschaft sinnlich erlebbar. Zur Fähigkeit, des sinnlichen Verstehens kann eine umfangreiche Literatur beigezogen werden. Das Studium dieser Quellen führt zu den Begriffen des "sinnlichen Lernens" (Kükelhaus), des "ästhetischen Denkens" (Welsch) und auch auf das "mimetische Lernen" (Rudolf zur Lippe). Von Seiten geographischer Methodenlehre kann die "Qualitative Forschung" (Uwe Flick) als Ausgangspunkt dienen, die in anderen Wissensgebieten gewonnenen Erkenntnisse sinnlichen Lernens auf die wissenschaftliche Beschreibung von Landschaften zu übertragen.

Mit der Zusammenführung der ästhetischen Betrachtung der Natur mit der wissenschaftlichen würde die Beschreibung des Lebensraumes aus der Sicht der Politik, Verwaltung und Planung, wie sie von Geowissenschaftlern mit der Vorstellung des Ökosystems gegeben wird, um den Aspekt, wie Landschaft vom Menschen erlebt wird, ergänzt.

 

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